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Map Of Manchuria 1942
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Map Of Manchuria 1942

Die Mandschurei im Museum: Russischer und japanischer Imperialismus in der chinesischen Erinnerungskultur

Unsere Reiseroute durch die Geschichte

  • Heihe (am Amur)
  • Harbin
  • Changchun (das frühere Xinjing)
  • Shenyang (das frühere Mukden)
  • Dalian
  • Lüshunkou
Erkenntnisse einer interdisziplinären RUB Summer School

Die Summer School fand vom 11. bis 23. September 2025 als Studienreise mit fortgeschrittenen Bachelor- und Masterstudierenden der Ostasienwissenschaften, Geschichtswissenschaften und Public History unter der Leitung von Dr. Anke Scherer und Prof. Dr. Sören Urbansky im Nordosten der Volksrepublik China in der Region statt, die früher unter dem Namen "Mandschurei" bekannt war.

Ziel unserer Reise war es, die Darstellung der neueren Geschichte dieser Region zu untersuchen, die seit dem 19. Jahrhundert von russischen und japanischen Einflüssen geprägt ist. Sowohl das zaristische Russland bzw. später die Sowjetunion als auch das imperialistische Japan versuchten, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Vorherrschaft in der Region zu gewinnen. Wir wollten nachvollziehen, wie diese konfliktreiche Vergangenheit heute in Museen, Gedenkstätten und im öffentlichen Raum erinnert und vermittelt wird.

Dazu besuchten die Teilnehmenden der Studienreise in 10 Tagen viele wichtige Museen der Region, untersuchten in Gruppen mit verschiedenen Fragestellungen die Darstellung von Geschichte und erstellten in Gruppenarbeiten den folgenden Webblog. Alle im Webblog benutzten Bilder wurden von Exkursionsteilnehmenden aufgenommen, für die Namen der Museen werden die englischen Bezeichnungen verwendet, um es für Interessierte zu erleichtern, diese Museen im Internet zu suchen.

Wir bedanken uns für die großzügige finanzielle Unterstützung für die Exkursion durch die Gesellschaft der Freunde der RUB, das PROMOS-Programm der RUB und die RUB Schools.


Inszenierte Geschichte: Museumsräume in der Mandschurei

Wer Museen in der Mandschurei besucht, begegnet weniger neutraler Wissensvermittlung als sorgfältig gestalteten Räumen historischer Erfahrung. Hier wird deutlich sichtbar, wie stark Geschichtspolitik, Erinnerungskultur und räumliche Inszenierung miteinander verwoben sind. Die Museen, die wir während unserer Studienreise besuchten, unterschieden sich zwar in Form, Qualität und Schwerpunkt – doch sie verfolgten alle das gleiche Grundprinzip: Geschichte wird gestaltet, um eindrücklich gefühlt zu werden.

Zunächst fällt auf, wie unterschiedlich Museen Erlebnisse herstellen. Besonders sogenannte „patriotische Erziehungsorte“ setzen auf intensive körperliche und emotionale Wirkung. Dort führt der Weg oft durch dunkle Gänge, enge Räume und dramatische Szenen werden gezeigt. Gewalt, Leid und Bedrohung werden dabei sinnlich erfahrbar gemacht – nicht nur über Bilder und Texte, sondern auch über Architektur, Geräusche, Beleuchtung und räumliche Führung. Geschichte wird zu einem affektiven Ereignis. Das Ziel ist klar: Betroffenheit erzeugen, Identifikation herstellen, nationale Einheit emotional verankern.

Dem gegenüber stehen „normale“ Museen, die weniger drastisch wirken, aber ebenso gelenkte Erfahrungen anbieten. Einige erschaffen nostalgische oder idealisierte Stadträume, andere setzen auf räumliche Offenheit und die scheinbare Nähe zum „Original“. Doch auch hier werden Besucher:innen in bestimmte Wahrnehmungsweisen geführt. Die Atmosphäre – sei es warm, modern, nostalgisch oder ehrfürchtig – strukturiert unbemerkt, wie Vergangenheit empfunden wird. Konflikte oder Ambivalenzen treten zugunsten harmonischer Bilder oft in den Hintergrund.

Auffällig ist generell, wie Authentizität entsteht: Nicht primär durch originale Objekte oder Quellen, sondern durch ästhetische Mittel. Repliken, Kulissen, Miniaturen, Lichtgestaltung oder die Aura historischer Gebäude erzeugen ein Gefühl des „Echten“, selbst wenn vieles bewusst gestaltet ist. Authentizität wird damit weniger zu einer Eigenschaft, sondern zu einem Effekt – ein Eindruck, der Vertrauen schafft und Interpretationen stabilisiert.

Eine zentrale Rolle spielt dabei außerdem die Emotionalisierung. Ob Schock, Betroffenheit, Nostalgie oder Ruhe: Gefühle sind das Medium, über das historische Narrative verankert werden. In den drastischen Ausstellungen intensivieren Gewaltbilder, Dioramen und Wachsfiguren das Mitfühlen und konditionieren Reaktionen. In den ruhigeren Museen erzeugen Licht, Klang und Architektur ein Wohlgefühl, das bestimmte Deutungen unterschwellig plausibel erscheinen lässt. Emotionen sind also nicht Beiwerk, sondern der eigentliche Motor historischer Vermittlung.

Die historische Imagination – also die Fähigkeit der Besucher:innen, sich das Vergangene vorzustellen – wird fast überall gelenkt. Manche Museen füllen Lücken mit dramatischen Szenen, andere mit idealisierten Rekonstruktionen. Fast nie bleibt Raum für offene Fragen oder alternative Sichtweisen. Die Imagination wird kanalisiert, damit sie sich entlang eines vorgegebenen Narrativs entfaltet: nationale Opferrolle, koloniale Gewalt, kommunistischer Widerstand, Fortschritt, Einheit.

Gerade in dieser Kombination aus Inszenierung, Emotionalisierung und gelenkter Imagination wird sichtbar, wie eng Geschichtserfahrung und Geschichtspolitik miteinander verschränkt sind. Die Museen der Mandschurei machen Geschichte außerordentlich fühlbar – aber selten verhandelbar. Sie bieten eindrucksvolle Erlebnisse, jedoch nur begrenzt Raum für kritische Reflexion oder eigene Deutungen.

Diese Museen zeigen: Geschichte erscheint nicht einfach, sie wird gemacht. Und wer sie macht, legt fest, was erinnert werden darf – und wie es sich anfühlen soll.

(Nils Bungardt, Marc Pasternak, Niklas Thull)


Liste der Blogbeiträge

 


Patriotische Erziehungsorte, Nostalgie und Abenteuer

Museen inszenieren Geschichte. Sie sind Orte, an denen Vergangenheit gedeutet, erlebt und gefühlt werden kann. In der Public History dienen Begriffe wie Erlebnis, Erfahrung, Authentizität, Emotionalisierung und historische Imagination als Analysekategorien, um diese Vermittlungsprozesse zu verstehen (Gundermann 2021). Während der Studienreise „Die Mandschurei im Museum“ besuchten wir eine Reihe von Museen in Nordost-China; sechs davon stehen im Mittelpunkt der folgenden Analyse, da sie besonders unterschiedliche und mitunter ungewohnte Zugänge zur Darstellung von Geschichte bieten.

Wir haben die Museen in drei Paare gegliedert: Das erste thematisiert die chinesisch-russische Vergangenheit, das zweite die chinesisch-japanische und das dritte die japanischen Verbrechen an der chinesischen Bevölkerung. In jedem Paar wird ein „patriotischer Erziehungsort“ mit einem „normalen“ Museum verglichen. An den Erziehungsorten versucht die Kommunistische Partei Chinas (KPCh), patriotische Gefühle, ein regierungsnahes Geschichtsbewusstsein und politische Loyalität zu fördern (Meya 2024).

Helden der chinesisch-russischen Grenze
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Helden der chinesisch-russischen Grenze

1. Das chinesisch-russische Verhältnis

Die Mandschurei war lange eine umkämpfte Grenzregion zwischen dem russischen Zarenreichreich und dem chinesischen Kaiserreich. Zwei Museen in der Provinz Heilongjiang, dem nordöstlichsten Teil der Mandschurei, erzählen diese Geschichte sehr unterschiedlich: die Aihui History Exhibition Hall (Heihe) und das Museum of Heilongjiang Province (Harbin):

Heroischer chinesischer Kämpfer gegen russische Angreifer
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Heroischer chinesischer Kämpfer gegen russische Angreifer
1.1 Die Aihui History Exhibition Hall (Heihe)

Die Aihui History Exhibition Hall ist ein sogenannter “Patriotischer Erziehungsort”. Um außenpolitische Spannungen im Zusammenhang mit der Darstellung der Geschichte der Beziehungen von China und Russland zu vermeiden, ist es russischen Staatsbürger:innen nicht gestattet, das Museum zu betreten: Im Mittelpunkt dieses „patriotischen Erziehungsorts“ steht der russisch-chinesische Grenzkonflikt, insbesondere das Blagoweschtschensk-Massaker von 1900, bei dem chinesische Einwohner in den Amur getrieben und getötet wurden.  Neben vielen Infotafeln, Schaukästen mit Ausstellungsstücken und Gemälden sind vor allem ein Diorama und ein Puppenkabinett die Höhepunkte des Museums. Beide werden durch Ton-, Licht- und Videoinstallationen ergänzt und machen die Gewalt des Massakers eindrücklich erfahrbar.

Diese Kulissen erzeugen ein stark atmosphärisches Erlebnis und lenken die Erfahrung der Besucher:innen gezielt auf dieses historische Ereignis. Zwischen historischen Objekten und Kulissen entsteht der Eindruck von Echtheit; doch vieles ist bewusst gestaltet. Authentizität fungiert als Mittel, Vertrauen und moralische Eindeutigkeit herzustellen: historisch anmutende Gemälde wirken wie Quellen, sind aber moderne Darstellungen, die den chinesischen Widerstand bewusst heroisch darstellen. Alternative Sichtweisen fehlen, die historische Imagination wird eng geführt, sie kann sich nur im Rahmen des bewusst gesetzten Narrativs bewegen. Historisches Lernen bleibt dabei begrenzt: Tafeln liefern Kontext und Zitate, ohne Debatte oder Forschungslage. Das resultierende Geschichtsbewusstsein ist politisiert und verknüpft Erinnerung mit Gegenwartszielen (Nationalstärke, „Wiederbelebung der Nation“).

Stadtansicht von Harbin in den 1920er Jahren
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Stadtansicht von Harbin in den 1920er Jahren
1.2 Das Museum of Heilongjiang Province (Harbin)

Das Museum of Heilongjiang Province in Harbin ist kein “Patriotischer Erziehungsort”. Hier wird die russische Vergangenheit in ein anderes Licht gerückt. Der Rundgang durch das Museum führt durch nachgebaute Straßen der 1920er Jahre, vorbei an Miniaturen westlich anmutender Gebäude, einer Dampflokomotive und einer Videowand, auf der die historische Stadt digital wiederaufgebaut wird. Begleitet von warmer Beleuchtung und orchestraler Musik wird den Besucher:innen ein optimistisches Gefühl von Modernität vermittelt. Die Besucher:innen gehen durch ein idealisiertes Harbin – eine Stadt, die europäisch-russische und chinesische Elemente vereint und damit Fortschritt symbolisiert. Die Ausstellung setzt auf historische Imagination: Sie lädt dazu ein, das alte Harbin zu sehen, zu hören und zu fühlen. Konfliktfelder wie Kolonialismus, japanische Besatzung oder Migration fehlen. Authentizität spielt nur am Rand eine Rolle. Die meisten Objekte sind Repliken oder Nachbauten, während echte Artefakte (wie Zeitungen oder Briefe) selten bleiben. Die Inszenierung erzeugt emotionale Ruhe statt kritischer Reflexion; eine subtile Form der Emotionalisierung, die über Atmosphäre wirkt, nicht über Schock. Das historische Lernen bleibt auch hier begrenzt: Geschichte wird als abgeschlossene Fortschrittserzählung präsentiert, nicht als Aushandlungsprozess. Im Ergebnis vermittelt das Museum ein Geschichtsbewusstsein, das Stolz und Kontinuität betont, während Brüche und Fremdherrschaft ausgeblendet werden.

Eingang zum Palast für Puyi
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Eingang zum Palast für Puyi

2. Die japanische Herrschaft in der Mandschurei

Dagegen thematisieren die beiden nächsten Museen – das September 18th Historical Museum in Shenyang und der Imperial Palace of Manchukuo in Changchun – nicht mehr die russische, sondern die japanische Herrschaft in der Mandschurei und inszenieren diese ebenfalls auf unterschiedliche Weise.

2.1 September 18th Museum (Shenyang)

Das September 18th Museum erinnert an den sogenannten Mukden-Zwischenfall vom 18. September 1931, einen von Japan selbst inszenierten Anschlag auf die Südmandschurische Eisenbahn, in dessen Folge Japan die gesamte Mandschurei besetzte und dort im Folgejahr den Marionettenstaat Manzhouguo errichtete. Bis heute gilt der 18. September in China als zentrales Erinnerungsdatum und markiert in der offiziellen chinesischen Geschichtserzählung den Wendepunkt von der nationalen Demütigung zum organisierten Widerstand (Van Oudenaren 2021). Im zugehörigen Museum, das wieder ein “Patriotischer Erziehungsort” ist, wird diese Geschichte zu einem physischen Erlebnis: Die Besucher:innen folgen zunächst einem festgelegten, abwärts führenden Pfad durch enge, dunkle Gänge und werden dabei mit den japanischen Verbrechen an der chinesischen Bevölkerung konfrontiert. An den Seiten des Weges macht eine Fülle von Fotografien, Dioramen, Skulpturen und Wachsfiguren die Verbrechen, Gewalt und chinesisches Leid unmittelbar und unausweichlich erfahrbar – sogar menschliche Gebeine werden gezeigt.

Nach dem langen Abwärtsgang markiert eine nicht zu übersehende rote Wand mit einer kommunistischen Parole den Wendepunkt. Von hier aus führt der Weg wieder aufwärts. Zunächst durch einen blau leuchtenden Winterwald, in dem Szenen des Guerillakampfes gegen die japanischen Besetzer dargestellt sind. Leid und Entbehrung setzen sich hier als vermittelte Emotionen fort, sie sind nun aber mit Sinn versehen. Der Pfad verläuft weiter bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs, dem folgenden Sieg der KPCh und der Gründung der VR China, deren Geschichte so vom Widerstandskampf gegen den Imperialismus bis in die Gegenwart als Kontinuum dargestellt wird. Die enge Architektur und das selten die Dunkelheit durchbrechende Licht lenken die Blicke der Besucher:innen auf die dargestellten Szenen von Leid und Widerstand, welche nicht etwa nur durch bloße Texttafeln und Vitrinen mit Ausstellungsstücken, sondern durch eine Kombination aus Bildern, Fotografien und Wachsfiguren sinnlich erfahrbar gemacht werden. Diese Inszenierung spricht mehrere Sinne gleichzeitig an: Das Sehen, das (Mit-)Fühlen und die räumliche Wahrnehmung. Durch diese multisensorische Vereinnahmung wird eine intensivere emotionale Verbindung zum Dargestellten geschaffen. Die historische Information wird in ein Erlebnis verwandelt, das stärker im Gedächtnis verankert bleibt als eine rein textbasierte Vermittlung. Viele Nachbildungen und zeitgenössische Skulpturen dienen dabei etwa nicht als Quellen, sondern ausschließlich der Inszenierung. Authentizität tritt so zugunsten der Vermittlung eines klaren Narrativs zurück.

Chinesisches Guerillalager
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Chinesisches Guerillalager
Die
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Die "rote Wand"
2.2 Der Imperial Palace (Changchun)

Im Imperial Palace dominieren dagegen räumliche Offenheit und die Aura des Originals. Die Palastanlage war der Sitz von Puyi, dem letzten Qing-Kaiser, welcher schließlich als von Japan eingesetzter Herrscher den Marionettenstaat Manzhouguo regierte. Besucher bewegen sich im Gegensatz zum September 18th Museum frei über das Gelände und begegnen Räumen und Objekten mit einem unmittelbaren Bezug zur Vergangenheit. Viele Räume sind mit historischen Gegenständen eingerichtet und vermitteln einen authentisch wirkenden Blick in die Lebenswelt Puyis. Neben dem Interieur werden Uniformen, Fahrzeuge und andere Objekte ausgestellt, die nicht nur an die japanische Herrschaft, sondern auch an industriellen Fortschritt erinnern. Auffällig ist, dass die japanischen Verbrechen hier nur am Rande thematisiert werden. Dadurch entsteht weniger ein affektives Erlebnis als vielmehr eine individuelle, ruhige und selbstbestimmte Form der Geschichtserfahrung: Die Besucher:innen entscheiden selbst, inwieweit sie sich den Objekten aussetzen oder Distanz wahren. Sie werden nicht durch ein multisensorisches Überangebot „erschlagen“. Emotionalisierung und offensichtliche Lenkung der historischen Imagination finden somit nicht in so starker Weise wie im September 18th Museum statt.

In den Nebenausstellungen über Puyis Leben und die Kriegsverbrecherprozesse kehrt jedoch das vertraute Muster wieder: Die japanischen Verbrechen stehen im Fokus und Puyi erscheint als tragische Figur, die durch kommunistische Läuterung gerettet wird. Diese Ausstellungen erinnern in ihrem Stil an das September 18th Museum - die Wände sind in dunklen Tönen gehalten und viele Bilder, Fotografien, Modelle und Texttafeln erzählen mit klarer Struktur von der Geschichte.

Der Palastkomplex gewinnt dadurch einen doppelten Charakter: Er vereint die Aura authentischer Geschichtsräume mit Elementen der patriotischen Erziehung, wodurch beide Ausstellungstypen einander rahmen und kommentieren.

Das Auto von Puyi
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Das Auto von Puyi
Japanische Amtsstube der Einheit 731
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Japanische Amtsstube der Einheit 731

3. Japanische Kriegsverbrechen an der chinesischen Bevölkerung

Auch die beiden abschließend behandelten Museen befassen sich mit der japanischen Herrschaft über die Mandschurei, beleuchten dabei eines der traumatischsten Kapitel der chinesischen Geschichte: Das Unit-731-Museum und eine japanische Festungsanlange aus dem Russisch-Japanischen Krieg (1904/05) in Lünshunkou, die später von der Einheit 731 genutzt wurde.

3.1 Das Unit-731-Museum (Harbin)

Das Unit-731-Museum befindet sich auf dem Gelände der gleichnamigen Einheit der japanischen Kwantung-Armee, die dort zwischen 1935 und 1945 stationiert war. Dort führte sie Menschenversuche mit biologischen und chemischen Waffen durch. Schätzungen zufolge kamen dabei rund 250.000 Menschen ums Leben. Das heutige Museumsgebäude steht auf den Ruinen der ehemaligen Anlage und ist architektonisch düster und massiv gestaltet. Damit spiegelt schon das Gebäude das Thema wider. Bereits in der Eingangshalle zieht sich ein roter LED-Streifen wie eine symbolische Wunde durch den Raum. Die Besucherführung verläuft durch schmale Gänge, die sich immer wieder in größere Ausstellungsräume öffnen. In diesen werden durch Szenen mit Skulpturen und Dioramen die Verbrechen der Einheit 731 dargestellt. Viele dieser Darstellungen sind zunächst hinter Türen oder Planen verborgen, sodass die Besucher sie nach und nach „entdecken“. Die Ausstellung ist stark auf das Erleben ausgerichtet. Sie arbeitet mit einer Steigerung der Grausamkeit der Verbrechen und lässt die Besucher:innen Zusammenhänge selbst herstellen. In einem Raum stehen Besucher:innen zwischen nachgebauten Holzkreuzen. Über der Installation ist ein deckenfüllendes Bild eines Flugzeugs zu sehen. Eine Videoinstallation zeigt, wie ein Flugzeug Bomben, die Krankheitserreger beinhalteten, über den Kreuzen abwirft. Da die meisten Figuren im Museum ganz in Weiß gestaltet sind, können Besucher:innen die Vorstellung der vergangenen Verbrechen auf diese Figuren projizieren.

In dem Museum wird ein klares Konzept, das auf emotionale Wirkung setzt, verfolgt. Die brutalen Szenen sollen weniger auf eine reine Wissensvermittlung abzielen, sondern Betroffenheit und Schock erzeugen. Dabei knüpft die Ausstellung an das in China verbreitete historische Narrativ an, nach dem nationale Stärke notwendig sei, um zu verhindern, dass fremde Mächte China Schaden zufügen. Neben der emotionalen Dimension spielen Ausstellungsstücke, die als Beweise für die Verbrechen dienen sollen, eine zentrale Rolle. Zahlreiche Dokumente und Videoaufnahmen von Zeugenaussagen sollen die historische Authentizität der Ereignisse unterstreichen. Dies kann als Reaktion darauf gedeutet werden, dass Japan die Verbrechen der Einheit 731 lange Zeit dementierte.

Raum für Menschenversuche
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Raum für Menschenversuche
Kreuz für Menschenversuche
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Kreuz für Menschenversuche
3.2 Privatmuseum japanischer Festungsanlagen (Lüshunkou)

Im Kontrast dazu steht die ehemalige Festungsanlage in Lüshunkou nahe Dalian, auf deren Gelände während des Russisch-Japanischen Krieges (1904/05) eine bedeutende Schlacht stattfand.  Das dortige private Museum ist deutlich einfacher gestaltet als die anderen Museen. Besucher:innen können durch die erhaltenen Festungsanlagen und dunklen Innenräume laufen, daneben gibt es lediglich ein einzelnes Gebäude mit Ausstellungsstücken. Auf Anfrage leitet ein Guide Gruppen durch die pflanzenüberwachsene Anlage. Auf dem Gelände befinden sich eine aus Altmetall nachgebaute Hängebrücke und eine Kanone. Es gibt kaum Informationstafeln oder interaktive Elemente. Informationen erhielt unsere Exkursionsgruppe durch den Guide, der mehrmals von Menschenversuchen der Unit 731 auf dem Gelände berichtete. Dabei machte er keinerlei Quellenangaben. Die Festung mutet weniger wie ein Museum an. Der Besuch der Festung ist wie ein Abenteuer, da die Besucher enge dunkle Gänge erkunden und Hänge hinaufsteigen können. Die Dunkelheit und Nässe in den Innenräumen verleihen dem Ort eine besondere Aura.  Außer der Möblierung, die die historische Funktion der Räume andeutet, gibt es keine weiteren Kontextualisierungen der Anlage. Die historische Imagination wurde vornehmlich durch den Guide in Kombination mit dem historischen Ort angeregt. Beide Museen unterscheiden sich grundlegend in Professionalität, Intention und didaktischem Anspruch. Während das Unit-731-Museum ein Museum mit klaren Vermittlungsziel und moralischer Botschaft darstellt, handelt es sich bei dem Museum in Lünshunkou um eine „rohe“ Abenteuererfahrung.

Japanische Festungsanlange in Lünshunkou
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Japanische Festungsanlange in Lünshunkou

Zusammenfassung und Literatur:

Museen inszenieren Geschichte. Die sechs Beispiele aus der Mandschurei zeigen, wie sehr Museen Geschichte nicht nur präsentieren, sondern inszenieren. Patriotische Erziehungsorte wie die Aihui History Exhibition Hall, das September 18th Museum oder das Unit-731-Museum erzeugen gezielt intensive Erlebnisse, die Emotionen, Körperlichkeit und räumliche Führung zu einem eindeutigen politischen Narrativ bündeln. Andere Orte wie das Provinzmuseum, der Imperial Palace of Manchukuo oder die Festung von Lüshunkou wirken subtiler, strukturieren historische Erfahrungen jedoch ebenfalls – durch atmosphärische Ästhetik, Nostalgie, räumliche Offenheit oder das bewusste Ausblenden von Konflikten.

In beiden Ausstellungstypen entsteht Authentizität vor allem als Effekt von Gestaltung: durch Kulissen, Repliken, architektonische Atmosphäre oder die Aura des Ortes – seltener durch historische Quellen. Emotionalisierung wird damit zum zentralen Mittel, um Geschichte einprägsam zu machen, während die historische Imagination der Besucher:innen meist stark gelenkt wird und wenig Raum für Ambivalenz erhält. So wird Geschichte eindrücklich fühlbar, aber kaum reflektiert verhandelbar.

Literatur:

(Nils Bungardt, Marc Pasternak, Niklas Thull)


Die Modellierung von Geschichtsbildern: Nationale Narrative im Spiegel musealer Puppeninstallationen in Nordostchina

Chinesische Unterhändler, die die „Landesschande“ besiegeln – in Folterqualen verzerrte Gesichter: Puppen stellen einen lebhaften Spezialfall von musealen Ausstellungsobjekten dar. Jede historische Museumsausstellung verfolgt in Auswahl, Anordnung und Beschriftung ihrer Exponate und Installationen die Gestaltung eines erzählerischen roten Fadens, kurz: ein Narrativ (Thiemeyer 2010: 75f.).

Während historische Exponate in Objekten geronnene historische Tat verkörpern, sind hingegen Puppen „in Wachs gegossene“ Modellierungen von Geschichtsbildern. Durch ihre gezielte Gestaltung als „story telling device“ (Cooks/Wagelie 2022: 1f.) sind sie Trägerinnen von Narrativen. Sie leiten durch ihre konkrete Räumlichkeit vor den Betrachter:innen diese zum gemeinsamen Vorstellen von Geschichte an. Auf diese Weise werden sie zu einer Schnittstelle zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem, die emotionalisieren und auf diese Weise handlungsorientierend wirken kann.

Um die Methoden der Modellierung von Geschichtsbildern und die Vermittlung von nationalen Narrativen in chinesischen Museen besser zu verstehen, haben wir zwei Beispiele von Figureninstallationen auf ihre Puppengestaltung, Positionierung und ihre größere Kontextualisierung hin untersucht.

Die russisch-chinesischen Verhandlungen 1689
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Die russisch-chinesischen Verhandlungen 1689
Die russisch-chinesischen Verhandlungen 1858
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Die russisch-chinesischen Verhandlungen 1858

In der Aihui History Exhibition Hall (Heihe) inszenieren zwei Puppengruppen die beiden chinesisch-russländischen Vertragsschließungen von Nertschinsk (1689) und Aigun (1858). Der Übergang von Nertschinsk zu Aigun stellt im Museum ebenfalls eine narrative Schwelle dar. Dies wird im Museumsrundgang selbst durch eine abgewinkelte Ecke deutlich, die die Sicht von der ersten Vertragsgruppe aus auf die zweite versperrt. Konnte die chinesische Qing-Dynastie (1644-1912) im Vertrag von Nertschinsk der russländischen Aggression noch Grenzen setzen, zählt jener von Aigun bereits zu den „Ungleichen Verträgen“, die die imperialen Westmächte gegenüber China ungleich begünstigten und China in eine halbkoloniale Position und zahlreiche Krisen stürzten. Diese Phase wird im nationalen chinesischen Narrativ als „Landesschande“ verstanden, ein „Jahrhundert der Demütigung“, das schließlich 1949 durch die Gründung der Volksrepublik überwunden worden sei.

Eben dieses findet in den Puppen seinen Niederschlag: Zeichnet sich die erste Installation noch durch Symmetrie aus – die Unterhändler begegnen einander „auf Augenhöhe“ –, ist hingegen die zweite deutlich asymmetrisch gestaltet, da der russländische Gesandte hier nun die sitzenden Chinesen überragt. Auch hinsichtlich der Requisiten, insbesondere das Teeservice, das bei der Gestaltung der ersten Vertragsverhandlung auf ein längeres, freundlicheres Beisammensein hindeutet, weist das Fehlen eines Samowars beim zweiten Vertragsschluss auf eine Machtverschiebung zugunsten der russländischen Delegation hin: Der Vertrag steht im Zeichen des russländischen Diktats. Ebenso fällt die Kleidung ins Auge, denn während die russländische Seite sich für den Betrachter optisch modernisiert hat, erscheint die chinesische Delegation unverändert. Es entsteht das Bild eines Chinas, dessen Entwicklung eingefroren ist. Die Schwäche und Stagnation der Qing-Dynastie werden zur Erklärung der „Landesschande“.

Menschenversuche mit eingefrorenen Gliedmaßen
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Menschenversuche mit eingefrorenen Gliedmaßen
Giftgasversuche der Einheit 731 an Gefangenen
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Giftgasversuche der Einheit 731 an Gefangenen

Das Narrativ der „Landesschande“ begegnete uns erneut in der Exhibition Hall of Crime Evidence of Japanese Army Unit 731, kurz dem Unit-731-Museum, in Harbin. Als Museum und Gedenkstätte stellt es die grausamen biologischen Experimente der japanischen Armee an der Zivilbevölkerung ins Zentrum seiner Ausstellung und ist, genauso wie das Aihui Museum, ein staatlich eingetragenes „Nationales Musterzentrum für patriotische Erziehung“. In einzelnen Nischen weisen die den Betrachtenden zugewandten Puppen der Opfer auffällig ausgeprägte, ausgeleuchtete Gesichtszüge auf, während die Täter abgewandt und mit dem Rücken zu den Betrachtenden stehen. Die strikt weiße, farblose, fast „geisterhafte“ Erscheinung der Puppen, fällt dabei besonders auf. Sie stellen anhand von Einzelschicksalen einerseits exemplarisch das kollektive Leid dar. Andererseits begünstigt die „Entindividualisierung“ der kalkweißen Figuren ebenfalls die rhetorisch kollektivierende Vereinnahmung der individuellen Opfer für die Nation: In einem Ausstellungsraum, der sich thematisch den Leidenden zuwendet, ist auf Ausstellungstafeln wiederholt nicht von „Opfern“, sondern von „anti-japanischen Widerstandskämpfern“ und „patriotischen Helden“ die Rede.

Die Beispiele zeigen, wie Puppen in chinesischen Museen gezielt als emotionalisierende „story telling device[s ]“ (Cooks/Wagelie 2022: 1f.) eingesetzt werden, um vorhandene Geschichtsbilder zu modellieren. Durch bewusste Inszenierung (zum Beispiel durch Asymmetrie oder die Gegenüberstellung von Täter und Opfer) verankern sie das staatliche Narrativ der „Landesschande“, transformieren individuelle Opfer zu Helden und fördern auf diese Weise eine handlungsorientierte Geschichtswahrnehmung.

Banner der Mahnungen
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Banner der Mahnungen

Am Ausgang des Museums, vor den Ruinen der Versuchsanstalt, trafen wir auf eine stramm stehende Schulklasse, deren Schule eine Exkursion zum Museum organisiert hat. Dem in Reih und Glied stehenden Rest der Klasse fanden sich einige referierende Schülerinnen und Schüler gegenüber. Sie hielten ein Banner mit Mahnungen: „Erinnert die Geschichte – Vergesst nicht die Landesschande – Gedenkt der Landsleute – Wertschätzt den Frieden – Arbeitet für China“.  Das sinnstiftende Narrativ der durch die Niederlage Japans (1945) und der Gründung der Volkrepublik (1949) überwundenen „Landesschande“ verleiht den vom japanischen Faschismus zum Opfer gemachten Menschen einen narrativen Sinn innerhalb seiner Erzählung. Doch, in einem Gedenken, welches Narrative der „Schande“ des Landes über das Leid der Menschen stellt, scheinen individuelle Opfer außerhalb von Märtyrernarrativen nur wenig Platz zu haben.

Literatur:

  • Cooks, Bridget R.; Wagelie, Jennifer J. (2022) Introduction. In: Cooks, Bridget R.; Wagelie, Jennifer J. (Hgg.): Mannequins in Museums. Power and Resistance on Display. Milton Park; New York, 1–11.
  • Thiemeyer, Thomas (2010) Geschichtswissenschaft. Das Museum als Quelle. In: Joachim Baur (Hg.) Museumsanalyse: Methoden und Konturen eines neuen Forschungsfeldes. transcript Verlag: Bielefeld, 73–94.

(Paul Balzer, Maya Brombeer, Lara Seeger)


Beschriftungen als Mittel der Geschichtsvermittlung in chinesischen Museen

In ihrer Funktion als Gedächtnisorte dienen historische Museen nicht passiv der Erinnerung, sondern erzählen Geschichte aktiv. Museales Erzählen ergibt sich aus dem Zusammenspiel sämtlicher Elemente der betreffenden Ausstellung. Im Folgenden liegt der Fokus auf der Analyse der Schrifttafeln einer Auswahl von besuchten Museen im Nordosten Chinas, dem Gebiet des ehemaligen Marionettenstaat Manzhouguo. Beschriftungen erfüllen im Museum nicht nur eine erklärende Funktion, sondern strukturieren Wahrnehmung, lenken Interpretation und markieren Zugehörigkeit. So stellen sie meist den Paratext der Ausstellung für die Besucher:innen bereit (Buschmann 2010: 166).

Mehrsprachigkeit kann dabei sowohl inklusiv wirken als auch bewusst Grenzen ziehen. Sie entscheidet darüber, wer Zugang zu welchem Wissensstand erhält, und kann somit politisch genutzt werden. Besonders in Museen mit deutlichem erinnerungspolitischem Auftrag – wie es bei den als patriotische Erziehungsorte eingesetzten chinesischen Museen der Fall ist – sind Beschriftungen ein Mittel, nationale Identität zu formen und Besucher:innen in ideologische Narrative einzubinden.

Auch beim historischen Erzählen erzielen verschiedene Erzählstile unterschiedliche Effekte. In unserer Analyse konzentrieren wir uns auf drei Museen, die exemplarisch unterschiedliche Formen dieser sprachlichen Steuerung zeigen: das September 18th Museum in Shenyang, das Museum of Heilongjiang Province in Harbin und den Imperial Palace of Manchukuo in Changchun. Gerade diese Auswahl verdeutlicht, wie Beschriftungen eingesetzt werden, um historische Narrative zu formen und verschiedene Besuchergruppen unterschiedlich anzusprechen.

Im September 18th Museum zeigt sich eine klar hierarchisierte Sprachstruktur: Rahmentexte werden in Chinesisch, Englisch und Japanisch bereitgestellt, während sämtliche detaillierten Objektbeschriftungen, Kontextualisierungen und politischen Schlussbotschaften ausschließlich in chinesischer Sprache verfasst sind. Diese sprachliche Asymmetrie generiert zwei unterschiedliche Rezeptionsmodi. Chinesische Besucher:innen erhalten Zugang zu einer dichten, emotionalisierten und explizit politischen Darstellung, in der Begriffe wie „nationale Demütigung“ oder „Wiederbelebung der Nation“ eine zentrale Rolle spielen. Nicht-chinesische Besucher:innen hingegen bleiben auf die komprimierten und neutralisierten fremdsprachigen Zusammenfassungen beschränkt. Für sie entsteht ein lediglich chronologisch strukturiertes Narrativ. Die Mehrsprachigkeit fungiert hier weniger als Integrationsangebot, sondern vielmehr als Steuerung von Bedeutung, die den politischen Gehalt der Darstellung selektiv zugänglich macht. Besucher:innen, die die chinesische Sprache nicht verstehen, sind von der hier vorfindbaren Vermittlung identitätsstiftender Verdichtungen ausgeschlossen. Die emotionalisierte Erzählung des September 18th Museum kann jedoch aus der Gesamtausstellung erahnt werden.

Beschriftung im September 18th Museum
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Beschriftung im September 18th Museum

Das Museum of Heilongjiang Province verfolgt eine andere, aber ebenso wirkungsvolle Form sprachlicher Steuerung. Während die einleitenden und abschließenden Texte zweisprachig (Chinesisch, Englisch) präsentiert werden, sind sämtliche Objektbeschriftungen ausschließlich auf Chinesisch verfasst. Gleichzeitig lässt die Ausstellung zentrale historische Aspekte – wie die russische Rolle beim Bau der Ostchinesischen Eisenbahn oder die einst bedeutende jüdische Gemeinde Harbins – weitgehend unberücksichtigt. Die Kombination aus Einsprachigkeit und thematischer Selektion erzeugt ein harmonisiertes Fortschrittsnarrativ, das koloniale oder konfliktbeladene Elemente weitgehend ausblendet. Sprache fungiert hier als Filter, der die Wahrnehmbarkeit historischer Komplexität kontrolliert. Die Erzählung der Rahmentexte präsentiert sich weniger emotionalisiert als eindrucksvoll, um die Inszenierung der Gesamtausstellung zu untermauern. Fortschritt und kulturelle Vielfalt innerhalb eines Kontinuums von chinesischer Hoheit der Region sollen den Besucher:innen im Gedächtnis bleiben, unabhängig davon, ob sie chinesische Staatsbürger:innen sind oder nicht. Den nicht-chinesischsprachigen Besucher*innen bleibt der Zugang zu entscheidenden Informationen verwehrt, so dass Lücken innerhalb der Darstellung unbemerkt bleiben.

Pu Yi als einfacher Mensch
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Pu Yi als einfacher Mensch

Im Museum of the Imperial Palace of Manchukuo findet sich wieder ein mehrsprachiges Angebot an Beschriftungen. Sämtliche Räume sind mit chinesischen, englischen und japanischen Beschriftungen versehen, die die Funktionen der Räume erläutern. Es wird auf einen rein deskriptiven Stil gesetzt. Durch das Fehlen ergänzender Metatexte, die den historischen Kontext bereitstellen, wird fälschlicherweise der Eindruck vermittelt, dass der Marionettenkaiser Pu Yi tatsächlich dort residiert und regelmäßig Geschäfte geführt hätte. Innerhalb des Palastkomplexes befinden sich zwei zusätzliche Ausstellungen zu Pu Yis Leben sowie seiner Rolle während der Militärprozesse, deren Beschriftungen ausschließlich auf Chinesisch vorliegen. Nicht-chinesischsprachige Besucher:innen werden hier abermals vom präsentierten Narrativ ausgeschlossen. Demgegenüber wird dem chinesischsprachigen Publikum auch hier die Stärke der Nation aufgezeigt.

Wie diese Analyse zeigt, erzählen historische Museen nicht nur mittels verschiedener Erzählstile und Inszenierungen Geschichte auf unterschiedliche Art und Weise. Sie erzählen ebenso durch sprachliche Selektion Geschichte anders für ein unterschiedliches Publikum.

Literatur

  • Buschmann, Heike (2010) Geschichte im Raum. Erzähltheorie als Museumsanalyse. In: Joachim Baur (Hg.) Museumsanalyse: Methoden und Konturen eines neuen Forschungsfeldes. transcript Verlag: Bielefeld, 149-170.
  • Erll, Astrid (2017) Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen - Eine Einführung. J. B. Metzler Verlag, Stuttgart.

(Alisa Lesina, Aijing, Li, Felicia Nölle)


Das chinesische Selbstbild im Spiegel des russischen Fremdbildes

China und Russland, zwei Nachbarn mit einer tief verwurzelten Beziehung, und einer komplexen, oft ambivalenten Geschichte. Die Mandschurei, im Nordosten Chinas gelegen, ist ein zentraler Schauplatz eben dieser. In den dortigen Museen wird sichtbar, wie das russische Fremdbild zugleich ein Spiegel des chinesischen Selbstbildes ist und auch das heutige Verhältnis der beiden Staaten abbildet (Korte 2002).

Während die Russen in einigen Exponaten als überlegene Feinde und „Dämonen“ erscheinen (unter einem Exponat in der Aihui History Exhibition Hall werden Russ:innen als luocha, also als bösartige und furchterregende Dämonen aus der buddhistischen Mythologie, bezeichnet), die eine momentane Schwäche der chinesischen Nation ausnutzen, werden sie andernorts als freundliche Nachbarn bebildert, welche als Handelspartner oder gar Mitgestalter einer gemeinsamen Zukunft in Erscheinung treten. Die jeweilige Ausprägung dieser bipolaren Narrative hängt maßgeblich von ihrer historischen Einordnung ab, also davon, ob das Fremdbild des Russischen Zarenreiches oder der Sowjetunion im Vordergrund steht. Somit geben museale Ausstellungen und deren implizite Narrative vor allem wieder, wie China sich selbst sieht und verstanden wissen will.

Exemplarisch kann dies anhand einzelner Ausstellungsobjekte aus der Aihui History Exhibition Hall verdeutlicht werden. Interessant ist, dass russischen Staatsbürger:innen der Zutritt in diese verwehrt bleibt. Laut einem Blogeintrag eines Besuchers erklärten Mitarbeitende des Museums, dass russische Besucher:innen nicht mit den historischen Verbrechen ihres Landes konfrontiert werden sollten (Cockerell 2021). Ob diese Erklärung der Wahrheit entspricht, ist nicht belegt. Dennoch verdeutlicht die Regel, wie stark die museale Erinnerungspolitik von politischen und emotionalen Empfindungen im gegenwärtigen Verhältnis zwischen beiden Nationen geprägt ist, weswegen sich die Aihui History Exhibition Hall für die Frage nach Fremd- und Selbstbildern besonders eignet.

Unterzeichnung des Vertrags von Nertschinsk 1689
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Unterzeichnung des Vertrags von Nertschinsk 1689
Die Aihui History Exhibition Hall

Der historische Kontext des russländisch-chinesischen Kapitels in der Aihui History Exhibition Hall setzt im 17. Jahrhundert an, als die Mandschu den Beginn der Qing-Dynastie einläuteten. Das Russische Zarenreich war im imperialen Aufstieg begriffen und eroberte Gebiete am Amur, während sich China nach dem Sturz der Ming-Dynastie (1644) in einer machtpolitischen Umbruchphase befand. Die Spannungen wurden durch den Vertrag von Nertschinsk aus dem Jahr 1689 vorerst entschärft, da das Russische Zarenreich in diesem auf Gebietsansprüche nördlich des Flusses Amur verzichtete. Die Unterzeichnung des Vertrags von Nertschinsk wird im Museum als Moment diplomatischer Gleichstellung inszeniert, in dem sich beide Mächte als ebenbürtige Akteure gegenüberstehen (Urbansky 2021: 292). Dabei blieb der Vertrag in der Ausgestaltung der territorialen Grenzen vage.

Die Wachsfiguren der Vertragsunterzeichnung zeigen die Pekinger und Moskauer Vertreter auf Augenhöhe, beide Parteien respektvoll einander zugewandt, wobei die zaristischen Abgeordneten den chinesischen fast schon untergeben gegenüberstehen. Die Wachsfiguren der russischen Gesandten neigen leicht ihre Köpfe. Dabei finden sich in der Darstellung der chinesischen Vertreter keinerlei Anzeichen einer Überhöhung, sie blicken den russischen aufrichtig ins Gesicht. Diese Szene vermittelt somit ein Bild von gegenseitiger Anerkennung, das China als gerechte, souveräne Macht versinnbildlicht, die einen unterlegenen Gegner nicht demütigt.

Etwa 200 Jahre später befindet sich Qing-China in einer drastisch anderen Situation: Nach militärischen und politischen Krisen, wie der Taiping-Rebellion (1850-1864) und den zwei Opiumkriegen (1839-1842; 1856-1860) präsentiert das Museum den Vertrag von Aigun aus dem Jahr 1858 als Kipppunkt der chinesischen Macht (Urbansky 2021: 292).

Unterzeichnung des Vertrag von Aigun 1858
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Unterzeichnung des Vertrag von Aigun 1858

In der Darstellung des Vertrags von Aigun beugt sich der russische Unterhändler dominant über den Tisch, während der chinesische Vertreter sitzt und unter dem visualisierten Druck der zaristischen Gesandten den Vertrag unterschreibt. Diese erkennbare Hierarchie spiegelt das asymmetrische Machtverhältnis wider: Russland wird als aggressiver Imperialist inszeniert und China als Opfer russisch-imperialistischer Bestrebungen. Die figürlich dargestellte Überlegenheit der Russen lässt Rückschlüsse auf das chinesische Selbstbild zu: Sie zeigt China als eine Nation, die in einem Moment der Schwäche Unrecht erfährt. Dies deckt sich auch mit der chinesischen Bezeichnung für den Vertrag von Aigun – einem „Ungleichen Vertrag”, bei dem beide Vertragspartner nicht gleichwertig behandelt werden. Durch die Darstellung eines überlegenen Anderen wird ein Gefühl nationaler Demütigung transportiert. Das Fremdbild der Russen als übermächtige Aggressoren dient hier dazu, den historischen Leidensweg der chinesischen Nation zu skizzieren.

Besonders eindrücklich inszeniert das Diorama zum Blagoweschtschensk-Massaker im Sommer 1900 die Auswüchse dieses Leidensweges. Es zeigt, wie russische Truppen chinesische Zivilisten töten oder brutal in den Fluss Amur treiben (Glebov 2023: 211).

Detail der Darstellung des Massaker von Blagoweschtschensk
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Detail der Darstellung des Massaker von Blagoweschtschensk
Detail der Darstellung des Massaker von Blagoweschtschensk
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Detail der Darstellung des Massaker von Blagoweschtschensk

Durch die Kombination von gemaltem Hintergrund und plastischen Figuren entsteht eine emotionale Intensität, die den Betrachtenden unmittelbar in das Geschehen hineinzieht. Auch hier erscheint Russland als barbarische Gewaltmacht, während China – personalisiert durch die Bewohner:innen des Dorfes – als leidendes, aber moralisch überlegenes Opfer dargestellt wird. Diese Interpretation entsteht nicht allein durch die Betrachtung des Dioramas, sondern vervollständigt sich vorrangig durch die Gesamtschau, die das Museum seiner Zielgruppe bietet: Die Besuchenden wissen um den Aufstieg der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) und des chinesischen Volkes. Der historische Rückblick, den das Museum bietet, ist immer durch die heutige Position der Volksrepublik China in der Welt geprägt, und diese nimmt stetig Einfluss auf den interpretatorischen Horizont. Das Selbstbild, das hier entsteht, ist das eines Volkes, das zwar erniedrigt wurde, aber Märtyrercharakter vorweist. Das „Jahrhundert der Demütigung“ wird durch den teleologischen Aufstieg der KPCh und durch die Gründung der Volksrepublik 1949 überwunden: Die „Landesschande“, durch den Angriff der russischen Soldaten verkörpert, wird durch die KPCh vereinnahmt und in ein Narrativ des nationalen Aufstiegs transformiert.

Alle drei musealen Darstellungen über die jeweiligen Vertragsverhandlungen und das Massaker machen deutlich, wie wandelbar das Bild Russlands in der chinesischen Erinnerungskultur ist. Beim „Ungleichen Vertrag” von Aigun und dem Diorama steht Russland für Unterdrückung und Brutalität, während China als Opfer fremder Aggression erscheint. Beim Vertrag von Nertschinsk wiederum wird China zum Partner und Mitgestalter einer gemeinsamen Zukunft, die sich auf Zusammenarbeit und Kompromisse gründet. Diese beiden Narrative stehen exemplarisch für die Spannbreite des chinesischen Selbstverständnisses: zwischen Leidensgeschichte und nationaler Stärke. Das russische Fremdbild fungiert dabei weniger als Abbild der Realität, sondern als Projektionsfläche, über die China das eigene historische und politische Selbstbild entwirft und festigt. In der Aihui History Exhibition Hal wird der Aufstieg der KPCh legitimiert, welcher auf einer nationalen Demütigung durch das imperialistische westliche Außen beruht.

Literatur:

  • Cockerell, Simon (2021) Russians not allowed! Aihui History Museum. Online unter https://koryogroup.com/blog/aroud-china-aihui-museum.
  • Glebov, Sergey (2023) Blagoveshchensk Massacre and Beyond: The Landscape of Violence in the Amur Province in the Spring and Summer of 1900. In: Beuerle, Benjamin; Dahlke, Sandra; Renner, Andreas (Hgg.) Russia’s North Pacific: Centres and Peripheries, Heidelberg: Heidelberg University Press, 211–228.
  • Korte, Karl-Rudolf (2002) Außenbeziehungen: Selbstbild/Fremdbild. In: Greiffenhagen, Martin; Greiffenhagen, Sylvia (Hgg.) Handwörterbuch zur politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland, 2., völlig überarbeitete und aktualisierte Auflage, Wiesbaden: Springer Nature, 45–48.
  • Urbansky, Sören (2021) An den Ufern des Amur. Die vergessene Welt zwischen China und Russland, München: C.H.Beck.

(Johanna Feld, Luisa Jagusch, Cindy Tarczewski)